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Title
Vergangenes verhandeln. Spätantike Statusdiskurse senatorischer Eliten in Gallien und Italien


Author(s)
Meurer, Tabea L.
Series
Millennium-Studien
Published
Berlin 2019: de Gruyter
Extent
XI, 418 S.
Price
€ 109,95
Reviewed for H-Soz-Kult by
Hendrik A. Wagner, Institut für Altertumswissenschaften, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die Erforschung der spätantiken „Senatsaristokratie(n)“ hat Konjunktur. Die in der Reihe „Millennium-Studien“ erschienene leicht überarbeitete Dissertationsschrift von Tabea L. Meurer lässt sich in einem Forschungsfeld verorten, welches in den letzten 40 Jahren stark an Dynamik gewonnen hat.1 Insbesondere die jüngste Arbeit von Christoph Begass (2018) und der Sammelband von Adolfo La Rocca und Fabrizio Oppedisano (2016) bezeugen dies.2

Von älteren Forschungsarbeiten will sich Meurer vor allem über den gewählten Zugriff abheben: Aus kulturhistorischer Perspektive untersucht die Studie den Einsatz von Vergangenheitsbezügen in gallo-römischen und italischen Statusdiskursen in der inneraristokratischen Kommunikation. Die Untersuchung ist hierbei eher philologisch ausgerichtet und nimmt vor allem die senatorische Epistolographie und Dichtung in den Blick.3 Fokussiert auf die „Funktionalisierung abstrakter und konkreter Ahnen- und Altertumsreferenzen in senatorischen Aushandlungsprozessen“ (S. 40) revidiert Meurer den alten von Dekadenz- und Verfallsvorstellungen geprägten Vorwurf, die spätantiken Eliten seien nur noch von „Epigonentum und Eskapismus“ durchdrungen gewesen (S. 3–8). Vergangenheitsbezüge, Ahnenstolz und historisch fundiertes Wissen, wie sie zahlreich in der spätantiken senatorischen Literatur und Kommunikation zu finden sind, bewertet Meurer funktional als Bildungs- und Orientierungswissen im Kontext der senatorischen Distinktion und dem Aushandlungsprozess statusbezogener Ressourcen. Im Unterschied zu bisherigen Arbeiten rekurriert Meurer verstärkt auf kultur- und kommunikationstheoretische Impulse aus der Erinnerungsforschung, die insbesondere durch Maurice Halbwachs sowie Aleida und Jan Assmann geprägt wurden (S. 12–15). Dies wirkt sich vor allem auf die verwendete Terminologie aus. Ein Novum stellt dies natürlich nicht mehr dar. Gerade in der jüngeren altertumswissenschaftlichen Forschung finden Theorien der Gedächtnissoziologie verstärkt Anwendung.4

Nach dem Einführungskapitel (S. 1–49), in welchen die Methodik und Fragestellung dargelegt und der Untersuchungszeitraum und die Quellenauswahl begründet werden, richtet sich der Blick in Kapitel 2 (S. 50–163) zunächst auf die senatorischen Kommunikations- und Distinktionsstrategien am Ende des 4. Jahrhunderts. Bekannte Vertreter der gallischen und italischen „Senatsaristokratie(n)“, darunter Symmachus, Ausonius, Pacatus und Paulinus von Nola, werden untersucht. Die Auswahl beansprucht keine Vollständigkeit. So fehlt etwa eine Auseinandersetzung mit Claudian, Merobaudes, Macrobius oder Rutilius Namatianus. Dafür beschränkt sich Meurer hier nicht nur auf die Analyse der Reden, Dichtung und Briefliteratur, sondern bezieht auch numismatische und epigraphische Zeugnisse mit ein. Damit entfaltet sich ein breites Spektrum an geschichtsrekursiven Kommunikations- und Distinktionsmodi, unter welchen etwa das Leitbild des optimus princeps Trajan, die in der Panegyrik gepflegte Wiederherstellungsrhetorik (S. 58–95) und das „Einschreiben“ senatorischer Amts- und Würdenträger in die Denkmaltopographie Roms (S. 96–114) diskutiert werden. Hieran schließt sich eine Analyse der senatorischen Kommunikation am Beispiel der Reden und Briefe des Ausonius, Symmachus und Paulinus von Nola an (S. 115–160), welche die Bedeutung von historisch fundierter Distinktion im Aushandlungsprozess von Status und Autorität deutlich aufzeigt. Meurer stellt hier ein autoritatives Gefälle zwischen den Romani di Roma und provinzialrömischen Eliten fest, wobei aber „historisches Bildungswissen als ein verbindendes Statusmerkmal fungiert“ habe (S. 161).5 Zugleich zeigt die Analyse auf, dass auch in christlich-asketischen Kreisen nach wie vor historische Fundierung der Argumentation und Bildungswissen gepflegt wurden; es sei allerdings um die „zeichenhafte Selbsterniedrigung und charismatische Heiligmäßigkeit“ erweitert worden (S. 162). Die alten exempla haben hierbei partiell als Gegenentwurf zum neuen christlich-asketischen Selbstverständnis gedient.6

In den Kapiteln 3 (S. 164–253) und 4 (S. 254–349) konzentriert sich Meurer auf die Analyse zweier prominenter Fallbeispiele aus dem ausgehenden 5. Jahrhundert: Gaius Sollius Modestus Sidonius Apollinaris und Magnus Felix Ennodius. Sie repräsentieren die Pluralität innerhalb der gallo-römischen und italischen „Senatsaristokratie(n)“ und sind hinsichtlich des Umfangs der Textüberlieferung gut vergleichbar. Mittels einer textimmanenten Belegarbeit, die partiell auch den Vergleich mit weiteren Autoren (so mit Cassiodor) einschließt, gelingt es Meurer, die feinen Nuancierungen und Divergenzen in der senatorischen Kommunikation und in den Distinktionsstrategien präzise herauszuarbeiten. Für Sidonius Apollinaris legt sie eine schlüssige Phasenbestimmung vor, in welcher sich abhängig von den politischen Partizipationsmöglichkeiten Phasen der Teilhabe und der Desintegration abwechseln. Dementsprechend variabel sind das Selbstbild und das Kommunikationsverhalten. In politisch aktiver Position habe Sidonius historisches Orientierungswissen zur politischen Aktivierung seiner Standesgenossen und historische Fundierung als argumentatives Mittel der politischen Forderung eingesetzt (S. 175–191). In der Desintegration habe er mit Blick auf die eigene soziale Verortung, gerade auch im Spannungsfeld zwischen (erzwungenen) otium und negotium, eher auf historisches Bildungswissen zurückgegriffen (S. 191–215) und sich hier insbesondere mit der „Leidensfigur“ Cicero (S. 215–232) identifiziert. Nach der Weihe des Sidonius zum Bischof erkennt Meurer eine Distanzierung von profanhistorischen Vorbildern und weltlichen Distinktionsansprüchen, wobei das historische Bildungswissen sehr wohl weiter gepflegt wurde (S. 232–248). Nicht grundsätzlich anders liegt der Fall des Ennodius. Allerdings stellt Meurer fest, dass die Differenzierung von historischen Bildungs- und Orientierungswissen etwas spezifisch gallo-römisches zu sein scheint (S. 357). Dies wirft aber die Frage auf, ob sich beides überhaupt so klar voneinander abgrenzen lässt. Bedingt durch den Ausschluss von der Ämterlaufbahn und den Eintritt in den Klerikerstand habe sich Ennodius verstärkt asketischer Heiligmäßigkeit und amtskirchlicher Autorität bedient, wogegen Ahnenstolz und historisches Orientierungswissen eine Relativierung erfuhren (S. 268–310). Dies schloss aber nicht aus, dass weiterhin historischem Orientierungs- und Bildungswissen in der Kommunikation mit hochgestellten nobiles entsprochen wurde und die historische Fundierung in (kirchen-)politischen Kontexten Anwendung fand (S. 310–344).

Dass Vergangenheitsbezüge, historisches Bildungs- und Orientierungswissen essenziell für die senatorische Identitätsbildung und Distinktion sind, ein kommunikatives und politisches Kapital darstellen sowie soziale und politische Handlungsräume schaffen, ist bekannt. Hier wartet die Studie nicht mit grundlegend neuen Erkenntnissen auf. Ihr Wert liegt vor allem in der detaillierten, quellenimmanenten Analyse der senatorischen Kommunikations- und Distinktionspraxis anhand ausgewählter Beispiele. Die Funktion sowie Funktionswandlung von Vergangenheitsbezügen, Ahnenstolz und historisch fundiertem Wissen werden erstmals präzise erfasst. Darüber hinaus ist für Sidonius und Ennodius ein detailliertes Kommunikationsprofil entstanden. Hierdurch leistet Meurer mit ihrer Studie einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der inneren Verfassung einzelner nobiles und ihrer Kreise. Die Forschung zu den spätantiken Eliten ist hiermit aber sicher nicht abgeschlossen: So lässt sich mit Blick auf die chronologische Lücke, die Meurer offenlässt, hoffen, dass künftige Arbeiten die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts stärker berücksichtigen werden. Auch der Frage, wie sich die senatorische Erinnerungs- und Distinktionskultur konkret in politisches Kapital umwandelte und inwiefern hiervon politische Prozesse beeinflusst wurden, müsste weiter nachgegangen werden. So wird die Studie Meurers sicher einen guten Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen darstellen.

Anmerkungen:
1 Neben den zahlreichen Forschungsarbeiten André Chastagnols siehe etwa John F. Matthews, Western Aristocracies and Imperial Court, AD 364–425, Oxford 1975; Henrik Löhken, Ordines dignitatum. Untersuchungen zur formalen Konstituierung der spätantiken Führungsschicht, Köln 1982; Christoph Schäfer, Der weströmische Senat als Träger antiker Kontinuität unter den Ostgotenkönigen (490–540 n.Chr.), St. Katharinen 1991; Beat Näf, Senatorisches Standesbewusstsein in spätrömischer Zeit, Freiburg (CH) 1995; Dirk Schlinkert, Ordo senatorius und nobilitas. Die Konstitution des Senatsadels in der Spätantike. Mit einem Appendix über den praepositus sacri cubiculi, den „allmächtigen“ Eunuchen am kaiserlichen Hof, Stuttgart 1996; Dirk Henning, Periclitans res publica. Kaisertum und Eliten in der Krise des Weströmischen Reiches 454/5–493 n.Chr., Stuttgart 1999; Rita Lizzi Testa (Hrsg.), Le trasformazioni delle élites in età tardoantica, Rom 2006.
2 Christoph Begass, Die Senatsaristokratie des oströmischen Reiches, ca. 457–518. Prosopographische und sozialgeschichtliche Untersuchungen, München 2018, und Adolfo La Rocca / Fabrizio Oppedisano (Hrsg.), Il senato romano nell’Italia ostrogota, Roma 2016 (von Meurer nicht berücksichtigt). Vgl. nun auch Hendrik Hess, Das Selbstverständnis der gallo-römischen Oberschicht. Übergang, Hybridität und Latenz im historischen Diskursraum von Sidonius Apollinaris bis Gregor von Tours, Berlin 2019.
3 Einen vergleichbaren Schwerpunkt setzt jüngst auch der Sammelband Gernot Michael Müller (Hrsg.), Zwischen Alltagskommunikation und literarischer Identitätsbildung. Studien zur lateinischen Epistolographie in Spätantike und Frühmittelalter, Stuttgart 2018 (von Meurer nicht berücksichtigt).
4 Z.B. Marcel Friesen / Christoph Leonard Hesse (Hrsg.), Antike Kanonisierungsprozesse und Identitätsbildung in Zeiten des Umbruchs. Tagungsband zur Internationalen Nachwuchstagung in Münster (26.–27. Mai 2017), Münster 2019.
5 Dies legt so auch die oft zitierte Sidonius-Stelle epist. 8,2,2 nahe; vgl. u.a. Stefan Rebenich, „Pars melior humani generis“ – Aristokratie(n) in der Spätantike, in: Hans Beck / Peter Scholz / Uwe Walter (Hrsg.), Macht der Wenigen. Aristokratische Herrschaftspraxis, Kommunikation und ‚edler‘ Lebensstil in Antike und Früher Neuzeit, München 2008, S. 153–176, hier S. 153 und 169f.; ferner auch Schlinkert, Ordo, S. 234f.; Näf, Standesbewusstsein, S. 277f.
6 Allerdings ließe sich hier noch stärker differenzieren, da die christlich-asketischen Kreise durchaus zwischen moderaten und extremen Ausprägungsformen variieren können. Hier sei etwa auf die Vita Melaniae iunioris oder die lucifugi viri des Rutilius Namatianus (1,440) verwiesen.

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